Sinnesgeschichte in

interkultureller und

etymologischer Sicht

 

2. Kapitel

 

für

 

Anthologie Multisensuelles Design

 

Giebichensteiner Vorlesungen

 

 

 

 

Jürgen W. Kremer

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

© 2002 by Jürgen W.Kremer

 

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0. Einleitung

Dieses Kapitel setzt die kritischen Untersuchungen des 1. Kapitels im Kulturvergleich fort. Ziel der Diskussion ist es, mittels historischer, etymologischer und interkultureller Analysen Grundlagen für die Entwicklung von pädagogischen Zielen, von methodischen Begriffen und von Bewertungsdimensionen vorzubereiten.  Auf diesem Wege kann der Begriff des Multisensuellen historisch und kulturell wie interkulturell verankert werden. Mein Ausgangspunkt sind indigene Wissens- und Seinsweisen, die uns einen erweiterten Blick auf Probleme und Möglichkeiten des Multisensuellen erlauben. Im Kontrast zu den dissoziativen Tendenzen des modernen Selbsts und seiner Geschichte finden wir hier signifikant unterschiedliche assoziative Einbettungen des Selbst in seine Umwelt bei alternativer Benutzung der Sinne. In der zusammenfassenden Interpretation der ersten beiden Kapitel werde ich dann Hinweise für einen holistischen Funktionsbegriff der Sinne sowie eine transformatives Lerncurriculum darlegen. 

 

Die folgenden Themenbereiche werden beschrieben:

--- Interkulturelle Analysen zeigen, daß Realitätsinterpretationen um sehr verschiedene Sinnesachsen konzentriert sein können; Beispiele von anderen Kulturen illustrieren, daß z.B. auch Temperatur, Farbe und Geruch zentrale Koordinaten des Weltverständnisses sein können.

--- Etymologische Überlegungen erinnern uns an die Zusammenhänge der verschiedenen Sinnesmodalitäten. Daraus ergibt sich unser weitergefaßtes Verständnis der Synästhesie.

--- Aus den vorgegangenen Beschreibungen ergibt sich der Umriß eines holistischen Verständnisses der Sinnlichkeit.

--- Curriculare Implikationen der historischen und interkulturellen Analysen werden im Abschluß beschrieben.

 

 

1. Die Sinne in interkultureller Perspektive

Im interkulturellen Blickfeld finden wir  jede Menge interessanter Fakten über die Benutzung der menschlichen Sinne. Die Unterschiede im Verständnis des Geruchssinns, z.B., rangieren von interessant bis amüsant. Während wir in Japan die bereits erwähnten Odorphobien finden, benutzen die tunesischen Beduinen die aromatischen Sarghinwurzeln (Corrigeola telephiifolia) um ihre Genitalien zu beweihräuchern; auf diesem Wege sollen genitale Gerüche neutralisiert werden um so dem Lustausdruck nicht im Wege zu stehen. Die Frauen auf Mikronesien nehmen Dampfbäder und reiben sich mit Kokosnußmilch und diversen Blütenölen ein um so ihrer sexuelle Anziehungskraft zu erhöhen (in dieser Kultur mit einem hochentwickelten Geruchssinn finden wir auch die Benutzung detaillierten olfaktorischen Wissens z.B. um Fische zu fangen). Bei einer Reihe von Völkern, z.B. den Inuit (Eskimos), Samoanern, Maoris und Filipinos, finden wir Begrüßungsrituale mit Nasereiben und Gesichtsbeschnüffelung. Bei den Arabern bedeutet Assimilation, daß der Neuankömmling den Gruppengeruch angenommen hat. Bei sehr weit voneinander entfernt liegenden Stämmen in Bornea, entlang des Gambiaflußes in Westafrika, in Burma, Sibirien und Indien bedeutet das Wort für küssen riechen. Wenn die Mitglieder eine neuguineanischen Stammes „Auf Wiedersehen!“ sagen, dann schieben sie sich gegenseitig eine Hand unter die Achsel und bedecken sich anschließend mit dem Geruch des Freundes/der Freundin durch Abreiben. Die Masai moussieren ihr Haar mit Kuhdung, wodurch es sowohl einen starken Geruch als auch einen orangebraunen Glühschein annimmt. Am Amazonas benutzten die Frauen Salbeiröcke als Deodorant und die Männer reiben sich ihre Armachseln mit einer wohlriechenden Wurzel ein.[i]

 

Visuelle Metaphern überwiegen in europäischen Beschreibungen der Welt: Wir sehen Kosmologien als Weltansichten, als Landschaften, die kartographiert werden können. Hingegen sind illiterate Kulturen mit mündlicher Überlieferung als zentralen Vektor nicht so sehr durch das Sehen als durch den Klang belebt. Hier ist die Welt nicht vor den Augen ausgebreitet, sondern mehr eine dynamische und vergleichsweise vielleicht weniger vorhersagbare Ereigniswelt, anstatt einer Welt angefüllt mit Objekten. Im Folgenden werde ich eine Reihe von Beispielen aus indigenen Kulturen erwähnen, die Ausformungen der mündlich überlieferten Traditionen darstellen, die für die ökologische Ästhetik insgesamt relevant sind. Danach werde ich drei Beispiele detaillierter beschreiben, die spezifische Relevanz für multisensuelles Design haben.

 

Eine respektvolle Wissensbenutzung bzw. ein respektvoller Wissensaustausch mit qualitativ andersartigem kulturellem Wissen verlangt einen egalitären Standpunkt. Auf Grund der Kolonialismusgeschichte ist dies politisch ein wunder Punkt; während die europäischen Kulturen sich weitgehend aus eigener Wahl und ohne äußere Gewalt auf die dissoziative Route des modernen Selbst begeben haben, ist diese Qualität von Sinnes- und Selbstkonstruktion den indigenen Völkern von Außen aufgezwungen worden. Während die vormals assoziative Beziehung zu Selbst und Umwelt als kontrolliert und lebensbereichernd erfahren wurde, wurde und wird jetzt die zwanghafte Konstruktion des modernen Selbst – die Kolonisation von Kultur und Selbst – als dissoziativ und lebensverarmend, dem Griff indigener Kontrolle entzogen, erlebt. Wenn wir das moderne Selbst weiterhin als wissenschaftliche Norm setzen, dann verlängern wir den Prozess der imperialistischen Beziehung zu indigenen Völkern. In diesem Sinne ist es wichtig die nachfolgenden Beschreibungen als gleichwertige alternative Sinnes- und Selbstkonstruktionen zu lesen und sie nicht als Überbleibsel evolutionärer Hinterwäldler zu betrachten. Sie mögen für uns genau jene Wissensbereiche im multisensuellen Design eröffnen, die wir zur Beantwortung unserer zeitgenössischen ökologischen und sozialen Probleme benötigen. Die folgenden Beispiele sind somit Anstösse zum transformativen Lernen, d.h. der kritischen Beleuchtung unser habituellen Annahmen.

 

Im Kontext der historischen Betrachtungen des vorigen Kapitels kann man die folgenden Beispiele mit Jäger-Sammler-Kulturen, Hortikulturen oder Hirtenvölkern in einen Zusammenhang stellen. Jedoch anstatt sie als zeitgenössische evolutionäre Überreste zu betrachten (wie es diskriminatorisch in veralteten kulturevolutionären Theorien geschah), sollen als genauso evolutionär differenziert und fortgeschritten angesehen werden wie z.B. die deutsche Kultur. Kelly (1995, S. 337) hat den Stand heutiger Theorien so zusammengefaßt: „Kein Sozialwissenschaftler würde heutzutage noch sagen, daß die industrielle Gesellschaft evolutionär fortgeschrittener ist als die modernen Jäger und Sammler.“ Die Differenziertheit und den Reichtum indigener Kulturen nicht zu sehen oder nicht als z.B. europäischen Kulturen gleichwertig zu sehen bedeutet einer rassistischen und vorurteilsbehafteten Sichtweise zum Opfer zu fallen.

 

 

Für die Diné (Navajos) im Südwesten der USA ist der Atem eine Zentralkategorie des Weltverständnisses. Die Cibicue Apachen in Neumexiko verbinden historische Ereignisse, Platz, ethische Erwägungen in ausbildungsträchtigen Geschichten.  Die altnordischen Stämme haben ein taktiles Verständnis der Erinnerung. Und die Warlpiri in Australien folgen den sogenannten songlines, wobei zeremoniell mittels Gesang, Geschichte, Malen und Tanz bedeutungsvolle Ereignisse, ökologisch eingebettet, dargestellt und evoziert werden.

 

Niłchi ist das Diné Wort für Wind, Luft und Atmosphäre (McNeley 1981). Niłchi durchdringt die ganze Natur, erlaubt Leben, Bewegung, Bewußtsein und ermöglicht Kommunikation zwischen Lebewesen. Es ist in mancher Hinsicht dem indischen prana oder dem griechischen qumoV, thymos, vergleichbar (Onians 1951). Es ist ein zentrales Konzept ihrer Weltvorstellung.

Nachdem ein Mensch hózhó auf rituellem Wege in die Luft abgegeben hat, atmet er es dann zum Abschluß des Rituals dieses hózhó wieder in sich hinein und macht sich so zu einem Teil der Ordnung, Harmonie und Schönheit, die er mit Hilfe des rituellen Mediums von Sprache und Gesang in the Welt hinausprojiziert hat. (Witherspoon 1977, S. 61)

Als ganzheitliches Phänomen hat niłchi vielfältige Aspekte, so kann es z.B. als innerer Wind im Individuum zirkulieren. Das Selbst ist somit ein Teil der umgebenden Luft, die um einen herum und durch eine Person hindurchzirkuliert. In diesem Sinne ist Intelligenz immer schon ein aktiver Teilnehmer der atmenden Mit- und Umwelt. Menschliches Bewußtsein ist nicht von der übrigen Natur abgetrennt, sondern immer und unvermeidlich ihr Bestandteil durch das Medium von Niłchi. Der Vorgang der Heilung ist sinnlich ganzheitlich: die Sandbilder plazieren den Patienten nicht nur im symbolischen, sondern im wörtlichen Sinne an den Ort des Schöpfungsursprungs (somatisch, kinästhetisch); Schwitzbäder, Infusionen, Rauch, Gesänge, Erzählungen und andere Mittel sind ein untrennbarer Bestandteil des Heilungsgeschehen. Hier werden deutlich alle Sinne engagiert. Wir werden diese zeremoniellen Vorgänge im dritten Kapitel im Kontext der Trance und ihrer Bedeutung für multisensuelles Design in größerem Detail beschreiben.

 

Der zentralaustralische Stamm der Warlpiri versteht die Narrationen, die die songlines reflektieren, folgendermaßen: „Die Geschichte ist gleichzeitig eine Auflistung der Schöpfungsplätze in der Erzählung, eine Auflistung von mythischem, jedoch menschlichem Verhalten der Vorfahren und eine erinnerungsstützende Karte des Landes mit seinen wichtigen, lebensspendenden Charakteristiken mit der Absicht, jüngere Hörer zu instruieren.    Gesang, Geschichte, Malen und Tanz verkörpern alle dieselben bedeutungsvollen Ereignisse.    Jedes Individuum ist dafür verantwortlich, die Plätze, die ihm gehören, zu ernähren“ (Napaljarri & Cataldi, 1994, xvii, xviii, xix).  Ökologisches Verständnis wird hier multisensuell in der Performance der songlines verankert. Auch hier finden wir, daß das Ablaufen der songlines und das Singen urgeschichtlicher Ereignisse sinnvoll als archetypische Beispiele multisensuellen Designs verstanden werden können: Verantwortlich als Mensch zu leben bedeutet hier, daß wir uns aktiv um die songlines sorgen, d.h. das kulturelle Wissen in den verschiedenen Dimensionen holistisch verkörpern. Dieser Vorgang ist zentral im kosmologischen Verständnis der Warlpiri verankert bzw. drückt es aus. Bruce Chatwin (1987, 1996) hat die songlines, narzistisch und eurozentriert verfärbt, als Ausdruck seiner eigenen nomadisierenden Befürfnisse beschrieben.

 

Romantische oder nostalgische Tendenzen verführen uns häufig dazu bedürftig und idealisierend auf schamanische oder indigene Kulture zu gucken. Jedoch finden wir ein vergleichbares Weltverständnis selbst „zu Hause“, auch wenn wir dafür etwas in die Vergangenheit blicken müssen. Das zentrale mythische Bild der altnordischen Stämme ist der Lebensbaum, an dessen Wurzeln und Brunnen die drei Nornen (nornar) sitzen und mit ihren Händen den weißen Ton, aurr, den Reichtum des auður, aus der Quelle der Erinnerung hervorholen und damit die Welt befruchten (Völuspá, Strophe 19 & 20, Pálsson, 1996; Bjarnadóttir & Kremer, 2000).

Ask veit ek standa, / heitir Yggdrasill,

Hár baðmr ausinn / hvítaauri.

Þaðan koma döggvar / þærs í dala falla.

Stendr æ yfir grænn / Urðarbrunni.

Ich kenne eine Esche mit dem Namen Yggdrasill; es ist ein hoher Baum, mit weißem Ton besprüht. Von dort kommt der Tau, der die Täler betupft. Der immergrüne Baum ragt hoch über Urðrs Quelle hinauf.

Þaðan koma meyiar / margs vitandi

Þriár, ór þeim sæ / er und þolli stendr.

Urð hétu eina, / aðra Verðandi,

- skáru á skíði - / Skuld ina þriðiu.

Þær lög lögðu, / þær líf kuru

Alda börnum, / örlög seggia.

Von demselben Platz kommen drei wissenskundige Frauen, die aus dem See auftauchen, der dem Baum zu Fuße liegt. Die Menschen nennen eine Urðr, die zweite Verðandi, und die dritte Skuld; sie ritzen Runen auf Holzstücke. Sie legen die Gesetze fest, die Schicksale der Menschen und sie bestimmen die Lebensläufe der Menschenkinder.

Hier haben wir also ein taktiles Verständnis des Gedächtnisses, und es wird als ein intimer Bestandteil des Lebensprozesses und der Fruchtbarkeit verstanden. Bauschatz (1982) hat argumentiert, daß für die altnordischen Menschen ein Schritt in die Zukunft ohne den erinnernden Rückschritt durch die Vergangenheit, den Reichtum in der Quelle der Erinnerung, nicht denkbar war. Die taktile Substanz des Gedächtnisses ist mit dem Mineral Ton, aurr, benannt; und der assoziierte Begriff auður, bedeutet sowohl Fülle wie Leere, Glück und Tod, den Reichtum des Lebens wie Nichts; die indoeuropäische Wurzel *audh- bedeutet Gewebe. Zentral ist im altnordischen Weltbild die Zukunft in die Vergangenheit verwoben. Heute könnten wir sagen, daß sich die futuristischen Möglichkeiten des multisensuellen Designs nur dann entfalten können, wenn sie sich mit dem weißen Ton des Gedächtnisses beschmiert haben. Insgesamt ist dieses Weltbild, in dem ursprünglich Frauen eine zentrale Rolle spielten (im Gegensatz zu späteren patriarchalischen Wikingerzeiten), nicht frei von sexuellen Konnotationen und erinnert so auch an sexuelle Energien als eine spezifische Form kreativer Energien.

 

Basso (1996) beschreibt, wie in der Welt der westlichen Apachen die Weisheit in der Landschaft an bestimmten Stellen sitzt (Wisdom sits in places). Die Namen dieser Plätze, z. B. Tséé Biká Tú Yaahilíné, „Wasser fließt über eine Reihe von flachen Steinen hinunter“ oder T’iis Bitłáh Tú ‘Olíné, „Wasser fließt nach innen unter der Pappel“, bezeichnen nicht nur eine bestimmte geographische Charakteristik der Landschaft, sondern sie dienen auch also evokative Titel für Geschichten, die mit historischen Ereignissen, die an diesen Plätzen geschehen sind, verbunden sind. Allein die Erwähnung eines solchen Namens kann die Erinnerung an eine lehrreiche Geschichte hervorrufen, die in sozialen Situation wie ein Pfeil auf jemanden gerichtet wird, wenn sie als angebrachte Unterweisung betrachtet wird. Hier haben wir eine ganz andere Beziehung zur Ökologie: „Das Land pirscht sich fortwährend an Menschen heran. Das Land zwingt die Menschen richtig zu leben. Das Land sorgt sich um uns. Das Land sorgt sich um die Menschen“ (S. 38). Diese Platznamen sind historische Erzählungen, die graphisch das Unglück von Menschen darstellen, die die sozialen Standards der Apaches mißachtet          haben.  Die mündlich überlieferte Tradition verwebt menschliche Geschichte und Ökologie miteinander. Dieserart ökologisches Design strukturiert Erfahrung, Identität und Gemeinschaft in Rahmen eines Balanceaktes, wo Namen die Stichworte komplexer Erinnerungen und Instruktionen sind.

 

Illiterate Kulturen können nicht über einen Kamm geschoren und eindimensional durch den Modus der mündlichen Überlieferung beschrieben werden, da ihr sinnliches Modell der Welt durchaus durch andere Dimensionen zentral charakterisiert werden kann. In der Maya Kultur der Tzotzil in Chiapas, wie auch in anderen Kulturen Lateinamerikas, spielt die thermale Dynamik eine zentrale Rolle. Bei den Ongee auf den Kleinen Andaman Inseln im Golf von Bengal ist der Geruch das fundamentale kosmologische Prinzip. Die Desana im kolumbianischen Amazonasgebiet sehen hingegen ihre Welt durch Farbe animiert. Diese drei Beispiele zeigen, in welchem Umfang der Gebrauch der Sinne durch Sozialisation und kulturelle Interpretation geprägt sind. Sie deuten Wege an, in denen multisensuelles Design unerwartete Lösungen für Problemstellungen der ökologischen Ästhetik finden kann.

 

Im Universum der Tzotzil ist die Hitze das fundamentale Organisationsprinzip von Raum und Zeit (Classen 1993). Das kühlere Hochland ist sikil osil, das Kalte Land, die pazifisch warmen Niederungen sind k’išin osil, das Heiße Land. Osten wird lok’eb k’ak’al, hervortretende Hitze, und der Westen maleb k’ak’al, schwindende Hitze, genannt (Norden und Süden sind die Seiten des Himmels). Der zeremonielle Zyklus ist namensmässig als Zyklus der Hitze zu verstehen, wie aus den indigenen Worten für die katholischen Feste deutlich wird. Männer haben mehr Hitze als Frauen, jedoch sind bei Geburt beide gleich kalt bei geringer Innenhitze (von daher werden sie gebadet, in Decken eingewickelt  und bekommen scharfe Paprikas als Geschenk). Menschen sammeln im Laufe ihres Lebens Hitze an und erreichen direkt vor dem Tod den Höhepunkt. Mehr Hitze bedeutet mehr Kraft, und ein männlicher Schamane im hohen Alter, der die verschiedenen Ebenen des zeremoniellen Systems durchlebt hat, besitzt die höchstmögliche Hitze. Wenn Menschen geboren werden, dann zündet die Sonne im Himmel eine Kerze an; der Name der Kerze ist Zeit. Farben, Essen und Sprache werden als heiß oder kalt klassifiziert. Die Alltagssprache ist kalt, während die Ritualsprache als heiß betrachtet wird. Die Hierarchie der sozialen Gruppe ist von den wichtigen Mitgliedern, assoziiert mit der heißen, aufgehenden Sonne, bis zu den weniger wichtigen Mitgliedern, assoziiert mit der kalten, untergehenden Sonne, der Temperatur nach strukturiert.

Die tägliche Runde des häuslichen Lebens [in der Gemeinde Chamula] ist um den Herd, der nahe dem Zentrum des Erdfußbodens fast aller Chamulahäuser liegt. Der Arbeitstag beginnt und endet gewöhnlich am Feuer, die Männer und Jungen sitzen und essen rechts vom Herd ... Frauen und Mädchen links vom Herd. Darüberhinaus sitzen die Männer in dieser patrifokalen Gesellschaft auf winzigen Stühlen, die sie über den kalten, weiblichen Boden erheben, darüberhinaus tragen sie Sandalen. ... Im Kontrast dazu sitzen Frauen gewöhnlich auf dem Boden und gehen immer barfuß. (Gossen 1974, S. 36-7)

Hitze ist ein zentrales Element der Tzotzil Zeremonien, bei gleichzeitigem Engagement der anderen Sinne (der Geruchs- und Geschmackssinne durch das Festessen, des Gehörs durch Musik und Sprache und des Sehvermögens durch die farbenreichen Dekorationen).

All die kultivierenden Bestandteile der Zeremonien haben mit Hitze zu tun: die Hitze des Feuers, die die Tortillas backt; die Hitze des brennenden Weihrauchs über den Kerzen; die Hitze, die zur Herstellung des Alkohols aus Zuckerrohr notwendig ist; die Hitze, die für das Wachstum der Blumen für die Altäre notwendig ist. (Gossen 1974, S. 115)                              

Auf mythologischer Ebene wird Konflikt häufig als Hitzekampf verstanden. Selbst die biblischen Geschichten werden auf diese Weise interpretiert; so wird der Sonnenaufgang im Osten als Jesu Wiederauferstehung verstanden. Hitze ist die zentrale Koordinate der Welterfahrungen dieses Mayastammes -- ob in den täglichen Temperaturveränderungen, den Positionen um die Feuerstelle im Haus, der Hitze des eigenen Blutes oder den Temperaturunterschied zwischen Hoch- und Tiefland.

 

Die Ongee der Andaman Inseln sehen den Geruch als Quelle der Identität wie als raison d‘etre des Gesellschaftslebens an (Pandya 1987).

Die Ongee beschreiben kwayabe, Geruch, als etwas, das sich wie die Tiden der Ozeane bewegt. (S. 165)

Menschen, dange, Lebewesen mit Knochen, scheiden und senden Geruch aus. Die Fähigkeit Geruch auszusenden unterscheidet Lebendiges von Nicht-Lebendigem. Menschen können Geruch sowohl senden als auch empfangen. Geister können Geruch nur empfangen, aber nicht aussenden [Geister haben keine Knochen und können deshalb keinen Geruch ausscheiden]. (S. 166)

Wenn ein Ongee ich sagt, dann legt sie oder er einen Finger auf die Nase. In dieser Weltsicht bestehen Menschen aus Gerüchen, wobei die Knochen die höchstkonzentrierte Form des Geruchs sind. Krankheit wird als Verlust oder Übermass an Geruch verstanden; ein Übermass wird durch Erhitzung, d.h. Schmelzen der soliden Gerüche, behandelt; Geruchsverlust wird durch Körperbemalung mit weissem Ton behandelt. Therapeutische Interventionen richten sich also auf die Erhöhung oder Einschränkung der Geruchsabgabe.

 

„Im Verlauf von Alltagsgesprächen fragen die Ongee einander wie es läuft und ob es einem wohl geht indem sie sagen: Konyune? Onorange-tanka? Wörtlich übersetzt bedeutet dies: „Wann/warum/wo soll die Nase sein?“ (S. 167), mithin: Wie geht‘s? Oder: Wie ist deine Nase?

Wenn zwei Ongee aufeinander treffen, dann sagen sie zueinander:

Person A: Enekutata Bangey? (Wie geht es dir im Kollektiv?)

Person B: Kwace na-amborebe. (Ich hoffe du bist schwer.)

Der Begriff amboro, der schwer bedeutet, kommuniziert die Idee, daß es einem gut geht. Die Ongee glauben, daß man im Kollektiv, in der Stammesgruppe, sowohl sicher als auch wohlgenährt ist, da Kollektivität das Miteinanderteilen von Essen impliziert und, als Resultat, den Zustand des Schwerseins (voll mit Essen). Schwere macht es bösen Geistern unmöglich ein Individuum davon zu tragen. ...

Im Fall, daß die Person B Unwohlsein kommunizieren möchte, ist die Antwort: Geery?-yobe, d.h. „Ich bin leicht.“ ... Eine Stammesgruppe ist sicher nicht nur weil sie miteinander Essen teilt, sondern auch weil die Kollektivität Geruch abläßt, wodurch Individuen in der Kollektivität amboro, schwer, bleiben. (S. 114)

Bei der Antwort, daß eine Person schwer ist, setzt sich der Befragte auf den Schoß des oder der Anfragenden und reibt die Nase an dessen oer deren Wange; auf diesem Wege wird ein Übermaß an Geruch, das die Schwere bewirkt, entfernt. Antwortet man dagegen, daß man sich leicht fühlt, dann bläst der oder die Nachfragende dem oder der Befragten in die Hand, um so eine Infusion von Geruch und Schwere zu bewirken.  Diese Prozedur wird als Geruchsaustausch in der Sprache der Ongee bezeichnet: e ´geie kwayabe, „Gerüche von einem zum anderen übertragen.“ „Es ist Geruch, in Beziehung zu dem Wind, der sie trägt, der Raum und Zeit miteinander verbindet und somit die Bewegungen der Geister und der Ongee“ (S. 115).

 

Tod wird als Verlust des persönlichen Geruchs erklärt. Wachstum wird gleichfalls als Geruchsprozess verstanden.  Jagen, gitekwatebe, bedeutet in der Sprache der Ongee wörtlich: Geruch ablassen, so daß ein Fliessen des Todes verursacht wird. Der Jäger, gavekwabe, heißt wörtlich jemand, der seinen Geruch fest zusammengeschnürt hat (S. 102). Um sich gegen Gefahren aus der Geisterwelt abzuschirmen treten die Ongee bei Gruppenbewegungen von einem Ort zum anderen vorsichtig genau in die Fußstapfen des Vorgängers; auf diesem Wege sollen Geister größere Schwierigkeiten haben ein Individuum zu identifizieren. Ein gutes Feuer ist nicht so sehr durch Hitze oder Licht charakterisiert, sondern vielmehr durch den Rauch. Die Knochen der Vorfahren werden aufbewahrt, um auf diese Weise deren Hilfe durch den Geruchsablaß herbeiholen zu können; Körperbemalung mit Ton ist ein anderes Mittel der Kommunikation mit den Vorfahren, wobei verschiedene Designs unterschiedliche olfaktorischen Botschaften senden; diese Kommunikation mit allen anderen Lebewesen mittels Geruch wird wörtlich erinnern genannt.

Die Muster der unbemalten und bemalten Haut beeinflussen die spezifische Qualität des vom Körper freigegebenen Geruchs. Alle menschlichen Körper besitzen die Fähigkeit Geruch freizugeben und ein jeder Geist der Vorfahren ist mit einem bestimmten Geruchstypus identifiziert, der von einem spezifischen lebenden Verwandten freigegeben wird. Diese Identifikation eines Geistes und eines Verwandten wird auf der Basis der freigegebenen Geruchsmenge gemacht. Wenn die Bemalung im Prozeß der Herstellung eines Musters entfernt wird, dann bildet sich ein Design, das ein Code ist, den der verwandte Geist der Vorfahren dekodieren kann.

Das Dekodieren des Geruchs durch die Geister und das Kodieren des Geruchs durch Bemalung kommuniziert den Geistern die Existenz ihrer Verwandten und stellt eine Verbindung her. Die Ongee nennen diese Kommunikation, die Mensch und Geist durch Bemalung und Geruch verbindet, minyelange, wörtlich: sich erinnern oder wiedererinnern. (S. 139-140).

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Schamanen reisen in die Geisterwelt, indem sie es den Geistern erlauben ihren Geruch zu absorbieren, und auf diesem Wege werden sie mit auf eine Reise genommen. Geruch, Geschmack und Berührung sind Eigenschaften der Geister wie der Menschen; Sehen und Hören zeichnen alleine die Menschen aus. Schwere, Härte und Kälte sind Qualitäten, die mit dem Zurückhalten von Geruch im Zusammenhang gesehen werden; hingegen ist Licht, Weichheit und Hitze mit Geruchsabgabe verbunden. Lebensziel ist es, olfaktorische Balance zu erreichen. Leben und Tod werden als Zyklus der Geruchsübertragung verstanden.

 

Die Welt der Desana im Amazonasgebiet dreht sich um die Farbe (Reichel-Dolmatoff 1971). Diese fundamentale Weltsicht ist in ihrer Schöpfungsgeschichte beschrieben:

Die Welt, in der wir leben, hat die Form eines großen Scheibe, einer immensen runden Fläche. Es ist die Welt der Menschen und Tiere, die Welt des Lebens. Während der Wohnort der Sonne eine gelbe Farbe hat, die Farbe der Sonnenkraft, hat der Wohnort der Menschen und Tiere eine rote Farbe, die Farbe der Fruchtbarkeit und des Blutes von Lebewesen. Unsere Erde ist maria turí (mari/unsere, turi/Ebene) und sie wird „obere Ebene“ genannt (vehkámaha turí), da darunter eine weitere Welt liegt, die „unter Ebene“/dohkámaha turí. Dieser darunterliegende Welt wird Ahpikondiá, Paradies, genannt. Seine Farbe ist grün und die Seelen der Desana, die zu Lebzeiten gut waren, gehen dort hin. ... Die Milchstrasse taucht aus einer großen, schäumenden Strömung aus Ahpikondiá auf und verläuft von Osten nach Westen. Es ist eine Mittelregion zwischen der gelben Kraft der Sonne und der roten Farbe der Erde. (S. 24-25)

Jede Farbe hat eine besondere Bedeutung, z.B. gelb ist mit männlicher Potenz, rot mit weiblicher Fruchtbarkeit, blau mit Kommunikation und grün mit Wachstum assoziiert. Bei der Geburt hat jeder Mensch ein gleiches Ausmaß von Farbenergien.  Feuer ist das zentrale Symbol der kosmischen Energien -- es enthält das Gelb der Sonne, das Blau der Milchstraße und das Rot der Erde.

 

Die Materialkultur der Desana ist von diesem farbkosmologischen Verständnis durchdrungen. Zeremonielle Gegenstände haben profunde symbolische Bedeutungen und spiegeln das ontologische und epistemologische Wissen, das in der Schöpfungsgeschichte ausgedrückt ist, wider.

Die Holzbank ist somit ein Symbol der Stabilität und der Weisheit. Der Sonnenvater und Pamurí-mahsë [von der Sonne gesandter Menschenschöpfer] hatten ihre Bänke zur Zeit der Schöpfung. Wenn man auf einer Bank sitzt, dann wird man von gutwilligen Kräften beschützt, insbesondere von Emëkóri-mahsë [das Wesen des Tages] und Diroá- mahsë [das Wesen des Blutes]. Die Bank selbst beinhaltet einen komologischen und Fruchtbarkeitssymbolismus der folgendermassen verbalisiert wird: der untere Teil, die Füße selbst, sind weiß oder gelblich und repräsentieren die schöpferische Kraft von Ahpikondiá [Paradies]; die flache Oberfläche der Bank ist unsere Welt und sie ist mit schwarzen und roten Designs dekoriert, die pamurí-gahsíru [das Schlangenkanu] symbolisieren. Die Sitzhaltung auf der Bank ist sowohl schöpferisch wie beschützend und, zur selben Zeit, bildet eine gelb-rot-blaue kosmische Achse mit dem letzten Element, dem der Kommunikation, das durch die sitzende und denkende Person ausgedrückt ist. „Der flache Teil des Sitzes is unsere Erde; der gelbe Teil ist die Sicherheit, die die „gelbe Welt“ gibt; oben ist der Mensch mit seinen Gedanken.“ (S. 110-111)

Auf diese Weise breitet sich die Farbkosmologie mit ihren assoziierten Bedeutungen durch alle Lebensbereiche der Desana aus. Multisensuelles Design ist hier die Widerspiegelung des Schöpfungsverständnisses.

 

Farben stellen die Primärenergien im Kosmos der Desana dar, während Geruch, Temperatur und Geschmack die Sekundärenergien darstellen. Geruch resultiert aus der Kombination von Farbe und Temperatur. Auch Klänge sind mit Farben, Temperaturen und Gerüchen assoziiert. Krankheit wird als Gleichgewichtsverlust der Farben verstanden. Das Wort für heilen, mahsári, bedeutet gleichfalls geboren werden. Krankheit ist mit einer komplexen Sexualsymbolik verbunden und Heilung kann als Geburt verstanden werden; hier wird die dünne, schwarze Schicht, die sich um den Patienten gelegt hat, aufgebrochen, wobei der Patient als Fötus gesehen werden kann. Beim Durchbrechen des dunklen Umhangs des Kranken können verschiedene Tiere, wie z.B. eine Schildkröte, helfen. Darauf folgt ein wichtiger zeremonieller Vorgang:

Eine Anrufungskategorie von großer Bedeutung beschäftigt sich mit den günstigen Effekten von bestimmten Farben. Währenddessen werden die verschiedensten Tiere angerufen, insbesondere solche mit gelber, oranger oder roter Farbe. Das “rote Eichhörnchen” (mihsóka diágë) wird angerufen, and das “rotgelbe Eichhörnchen” (mihsóka nyígë), das “gelbe Eichhörnchen” (mihsóka diabirígë)... (S. 179)

Auf diese Weise wird der Patient gestärkt und beruhigt.

 

Diese verschiedenen Beispiele zeigen, daß das dominante Weltverständnis und die dominante symbolische Sinnesorientierung stark variieren und häufig nur unzulänglich in den westlichen visuellen Modellen oder Konzepten von illiteraten Kulturen, die auf mündlicher Überlieferung basieren, verstanden werden. Der symbolische, am höchsten verfeinerte Sinnesmodus, ist nicht unbedingt für Kommunikationszwecke am praktikabelsten; die beschriebenen Kulturen waren alle auf die mündliche Kommunikation und Überlieferung orientiert, jedoch waren sie nicht klangorientiert.  Auch zeigt das Beispiel der Desana deutlich, wie groß die Variabilität des visuellen Modus sein kann -- hier fanden wir einen Prozeß der sinnlichen Wahrnehmung, in dem Farbe mit Geruch und Geschmack kaleidoskopisch gemischt sind.  Es ist von daher wichtig, nicht nur den dominanten Modus der Sinneswahrnehmung zu identifizieren, sondern auch seine multidimensionale Verwebung genau zu verstehen. So sind die visuellen Körperbemalungen der Ongee auf ersten Blick nicht als Manipulationsinstrumente von Geruch ersichtlich. Verschiedene Kulturen haben unterschiedliche Hierarchien der Sinne und unterschiedliche Beziehungsstrukturen zwischen den einzelnen Sinnesmodalitäten. Das Universum der Desana ist weitgehend synästhetisch, wobei das Zusammenspiel der Sinne ist so eng ist, daß Trennungen oft schwierig vorzunehmen sind. Kulturen, die sich um andere Achsen als das Visuelle drehen, werden von Beobachtern häufig als verwirrend erlebt, da sie im Vergleich unpräzise zu sein scheinen -- anstelle von visuell präzis identifizierbaren Orten finden wir z.B. die unpräzise Bewegung des Geruchs. 

 

Unterschiedliche Bewertungen der Sinnesmodalitäten drücken nicht nur unterschiedliche Erfahrungen aus -- ob es die Einbettung in die Landschaft durch niłchi, den Atem bei den Diné ist; oder die Weisheit, die an bestimmten Plätzen residiert, wie bei den Cibicue Apachen; oder die Temperaturregelung bei den Tzotzils -- an all diesen Fällen werden gleichzeitig auch gesellschaftliche Ideale, Normen, Hoffnungen und Befürchtungen ausgedrückt. Wenn die Ordnung der Sinnesmodalitäten eine Widerspiegelung des Kosmos ist, dann wird die Welt auf eine Weise körpernah, die weder Lesen noch Hören allein bewirken können. Wir haben hier nicht so sehr Weltanschauungen als Klangwelten oder Sinneswelten oder Weltgerüche oder Weltfarben oder Weltatem oder Welterzählungen oder Gesangslinien, die sowohl an die Welt erinnern wie sie hervorrufen. Die indoeuopäischen Sprachen machen es schwer, diese unterschiedlichen Welterfahrungen und Praktiken adäquat auszudrücken.

 

Im Sinne des anfangs eingeführten Begriffs der normativen Dissoziation können wir sagen, daß die eben beschriebenen Stämme ihre Welt und Bewußtsein nicht in diesem Sinne einer Absplitterung strukturieren. Im Gegenteil finden wir hier normative Assoziation oder Bewußtheit, die die Einbettung in die Umwelt sinnlich-symbolisch unterschiedlich strukturiert. Die Welt wird nicht objektivierend angeschaut, sondern riechend eingeatmet oder farblich vibrierend unter Einbezug der synästhetischen Erfahrung des Geschmacks, der Temperatur, des Geruchs und Klangs erlebt. Das biologische menschliche Potential, dessen mentale Kapazitäten seit mehr als 200 000 Jahren gleich dem des modernen Menschen sind, wird hier auf signifikant andere Weise aktualisiert. Die somit durch die eben beschriebenen Kontraste besonders sichtbare normative Dissoziation (sowohl von der Umwelt wie der mehr synästhetischen Sinneserfahrung) kann nunmehr für kritische Interpretationen nutzbar gemacht werden. Das kontinuierlich präsente, aber vielleicht wachsende Minoritätsinteresse an alternativen Bewußtseinserfahrungen, sei es mittels schamanischer Trance, Meditation oder ekstatischem Tanz, kann als Ausdruck des Bedürfnisses nach Wiederbelebung von vergessenem oder unterdrücktem Sinnespotential und Welterleben verstanden werden.

 

2. Synästhesie und Sinnworte

Etymologische Untersuchung indoeuropäischer Sprachen weisen gleichfalls darauf hin, wie unterschiedlich Sinneswelten verstanden, entwickelt und zum Realitätsverständnis benutzt werden können. Interessanterweise weisen sie auf ein mehr synästhetisches, ganzheitliches und verwobenes Sinnessystem unserer Vorfahren hin (und ich benutze den Begriff der Synästhesie in diesem erweiterten Sinn auf Grund der nachfolgenden Betrachtungen).[ii] Hier waren die Grenzen zwischen den Sinnen flüssiger, und ein Begriff aus einem Sinnesbereich konnte später oder gleichzeitig in einem anderen benutzt werden. Diese ist vielfach auch heute noch möglich, wie die nachfolgenden Beispiele zeigen werden, jedoch sind diese Grenzüberschreitungen in den älteren Sprachschichten stärker ausgeprägt. (Die folgende Diskussion basiert weitgehend auf englischem Vokabular; jedoch können die Verallgemeinerungen relativ direkt auf das nahe verwandte Deutsche übertragen werden.)

 

Onomatopoetische Worte wie Knall, schlüpfrig, matschig, usw. sind natürlich als Imitationen der Sinneserfahrung offensichtlich. Die Bedeutung eines Wortes kann, z.B., vom auditiven zu einer anderen Sinnesmodalität hinüberwechseln. Während das deutsche krachen nur auditorial gebraucht werden kann, trägt das englische to crack sowohl die Bedeutung des krachenden Schalls wie die des Brechens. Interessanterweise ist das Wort hören selbst eine Transposition: die indoeuropäische Wurzel bedeutet ansehen oder wahrnehmen. Diese Wechsel in der Sinnesmodalität sind überraschend häufig. Im Englischen finden wir, daß die Worte bitter, tangy (übersetzbar als scharf, würzig, bitter oder salzig), piquant (pikant), pungent (beißend, ätzend, scharf, stechend riechend), tart (herb, sauer; übertragen: scharfzüngig), acid (sauer) und acrid (beißend, bitter) alle auf Worten mit der Bedeutung scharf (sharp) im taktilen Sinne basieren. Das englische Wort für Geschmack, taste, bedeutete ursprünglich Berührung (lateinisch toccare). Geschmack bedeutete als mittelhochdeutsches gesmac Geruch wie Geschmacksinn; es ist mit dem Englischen to smack, beim Schmecken von Essen schmatzen, verwandt (die Bedeutung „Geruch oder Duft“ verschwindet im 19. Jahrhundert, kann aber auch heute noch in oberdeutschen Dialekten gefunden werden). Die taktile Basis vieler Geschmacksworte weist auf die Wichtigkeit der taktilen Komponente im Geschmackssinn hin. Flavor (Geschmack) bedeutete einst odor (Geruch), und spicy (würzig) wies auf ein visuelles Charakteristikum hin. Süß, sauer oder beißend können sowohl gustatorisch als auch olfaktorisch benutzt werden.

 

Olfaktorische Worte haben häufig eine Verbindung mit Feuer oder Rauch: smell, reek (riechen = früher rauchen, dampfen), perfume (Parfüm) und incense (Weihrauch) haben in ihren älteren Formen die Bedeutung brennen oder rauchen. Das englische Wort für Atem, breath, hat die Wurzelbedeutung von kochen. Die Anzahl olfaktorischer Worte ist im Vergleich zu anderen Modalitäten geringer; es gibt mehr Worte für unangenehme als angenehme Gerüche. Wenn es riecht dann bedeutetet es häufig, daß es stinkt (wobei stinken etymologisch wie Staub aufgestöbert werden bedeutet). Das englische Wort scent ist mit dem lateinischen sentire und dem deutschen Sinn verwandt, wies also kinästhetisch auf Wahrnehmung allgemein hin. Ein taktiles Wort kann sich in einen auditiven, gustatorischen oder olfaktorischen Begriff verwandeln, aber nur seltener in einen visuellen. Visuelle Begriffe verwandeln sich selten in nicht-visuelle. In diesem Sinne ist der Sehsinn ausgegrenzt, und die Einzigartigkeit der visuellen Erfahrung behauptet sich.

 

--- Taktile Adjektive können visuelle sowie andere Sinneserfahrung bezeichnen (scharf, glatt, rauh, schwer).

--- Gustatorische Adjektive können für alle Sinne benutzt werden, ausgenommen dem taktilen (süßes Gesicht, süßer Geruch, süßer Klang). Geschmack wird meist nur durch taktile Adjektive qualifiziert (heiß, scharf; Ausnahme: faul). Geschmacksworte widerstehen in der Regel der Qualifikation durch spezialisiertere Sinne und sind dem Taktilen in dieser Hinsicht ähnlich.

--- Visuelle Adjektive können auch im Bereich des Hörens benutzt werden, jedoch gewöhnlich nicht in anderen Sinnesbereichen (heller Ton). Visuelle Begriffe können durch Adjektive von allen anderen Sinnesbereichen qualifiziert werden, ausgenommen des olfaktorischen (eine Farbe kann süß, scharf oder laut sein, aber nicht wohlriechend).

--- Auditive Adjektive werden seltener im visuellen oder anderen Sinnesbereichen benutzt (schreiendes Grün). Auditive Begriffe können auch gustatorisch qualifiziert werden (eine süsse Melodie).

--- Geruchsbegriffe sind intersinnlicher Benutzung gegenüber relativ resistent. Sie können durch taktile und gustatorische Begriffe qualifiziert werden, jedoch gewöhnlich nicht visuelle oder auditive. Gerüche können, wenn auch seltener, durch auditive Begriffe charakterisiert werden (Parfüm hat eine Note). Allgemein ist der olfaktorische Bereich der Verbalisierung gegenüber sehr resistent.

--- Taktile Begriffe sind im allgemein diffuser und können leicht auf andere Sinnesbereiche angewandt werden (scharf, rauh, schwer, glatt usw.).

 

All dies weist darauf hin, wie eng die Sinne in der Sprache miteinander verwoben sind. Hören hat die Wurzelbedeutung von gucken, sehen die von sehen und sagen; touch ist eine echoartige Repräsentation des Klopfens (lateinisch toccare); taste bedeutete ursprünglich nicht Geschmack, sondern Berührung (das deutsche tasten ist gleichfalls mit lateinisch taxare, scharf berühren, verwandt). Dabei ist immer wieder wichtig sich daran zu erinnern, daß die physiologischen Verbindungen zwischen den Geruchs- und Sprachzentren des Gehirns nur schwach ausgebildet sind – die Düfte sind uns am nächsten, jedoch können wir sie nur schwer benennen und fallen oft auf andere Benennungsmodalitäten zurück. All dies zeigt, daß die Sinnesmodalitäten sich über die Jahrhunderte und Jahrtausende stärker und rigider ausgegrenzt haben.

 

Hinsichtlich der abstrakten Benutzung von Sinnesworten ist zu erwähnen, daß Geschmack natürlich auch das Urteil des Schönen implizieren kann, den guten Geschmack. Flair bedeutete einstmals eine feine Nase, jetzt aber Stil. Takt stammt natürlich von der Berührung (unter Einfluß des französichen tact in der Bedeutung von Feingefühl, „taktvoll“, „Herzenstakt“); das Taktgefühl geht vom Musikalischen aus.   Vision weist auf Wahrnehmungen hin, die nicht unmittelbar offensichtlich sind. 

 

Etymologische Analysen machen den kulturellen Stempel, der unseren Sinnesfunktionen aufgedrückt wird, genauso offensichtlich wie interkulturelle Vergleiche oder kulturhistorische Untersuchungen. Multisensuelles Design, insbesondere vielleicht in der Olfaktorik, hat hier sowohl interessant Untersuchungsmöglichkeiten wie pädagogischen Potential in einer sozialen Welt, die weitgehend dissoziativ und im bewußten Erleben eindimensional strukturiert ist. Wenn wir im nachfolgenden Kapitel Tranceprozesse als integrative gehirnphysiologische Prozesse darstellen, dann weisen wir damit einerseits auf die Plastizität der bewußten Sinneswelten hin sowie auf die Möglichkeit der Integration vernachlässigter Potentiale. Die Welt der Ongee mag uns fremd und fern erscheinen, jedoch steht sie uns potentiell auch offen. Und Riechen mag uns an Rauch und Dampf erinnern, unser Atem an die indoeuropäische Wurzel ētmen, somit auch die Seele (Sanskrit ātman), und das Englische breath ist etymologisch das Einatmen des Gebräus, des Kochenden, des Brennenden, des Sprudelnden, des Überschäumenden. Täglich atmen wir etwa 23 040 mal und bewegen 12,4 Kubikmeter Luft. Sartre hat das existentialphilosophisch in seinem Baudelaire Buch (1963, S. 221) kommentiert: „Wenn wir den Körper einer anderen Person riechen, dann ist es diesen Körper selbst den wir durch Mund und Nase einatmen, den wir momentan besitzen, sozusagen in seiner geheimsten Substanz, seiner eigentlichen Natur. Einmal eingeatmet ist der Geruch die Fusion eines anderen Körpers mit meinem eigenen. Aber es ist ein körperloser Körper, ein verdampfter Körper, der ganz und er selbst bleibt während er gleichzeitig ein flüchtiger Geist wird.“

 

3. Sinn und Verstand

Im modernen Verständnis ist Wissen überwiegend mit dem visuellen Modus verbunden.[iii]  Das Wort Wissen selbst ist in seiner indoeuropäischen Wurzel mit sehen verbunden; Begriffe wie „Weltanschauung“ und „Weltansicht“ illustrieren diese Tendenz. Trotzdem der visuelle Kortex das größte Sinneszentrum im Gehirn ist, finden wir auch alternative Realitätskonstruktionen im interkulturellen Vergleich, Z.B. die Suya im brasilianischen Mato Grosso betrachten einen scharfen Hörsinn als Zeichen des erfolgreich sozialisierten Menschen, während Sehen von Brujos (Hexen) kultiviert wird und von daher anti-sozial ist. Das Wort Sinn ist in seiner älteren Bedeutung hingegen kinästhetisch: einer Richtung nachgehen, etymologisch mit der Bedeutung Weg verbunden; später dann fühlen (lateinisch sentire). Beim Wissen finden wir also die statischere Bedeutung des Sehens und der Sicht in den etymologischen Schichten, während das Wort Sinn praktischer mit der Bewegung in der Welt verbunden ist.

 

Denken bedeutet in der Wurzel scheinen. Wir sprechen von Überblick, Beobachtung, Erleuchtung, Fokus, spekulieren, Idee, Theorie, Witz -- alles Worte, die entweder offensichtlich oder in ihrer Wurzel mit der Bedeutung sehen verbunden sind. Hingegen wird der Denkprozeß eher in der taktilen Dimension ausgedrückt: begreifen, brüten, verstehen, wahrnehmen (während das lateinische kogitieren mit treiben verbunden, also kinästhetisch ist). Diese taktilen Begriffe drücken eine aktivere Teilnahme and den Gegenständen des Denkens aus, während die visuellen Begriffe eher eine distanziertere oder dissoziierende Beziehung zu den Denkobjekten ausdrückt.

 

Der Begriff Intelligenz ist visuell in seiner Bedeutung des dazwischen Zusammensuchens oder -sammelns. Hingegen wurde sie ursprünglich wohl vorwiegend taktil qualifiziert: Intelligenz ist scharf oder penetrierend. Selbst der kluge Kopf und die Klugheit ist eher taktil in der Wurzelbedeutung von ballen und Geballtes. Erst mit dem Beginn der Moderne, mit der Aufklärungsphilosophie, finden wir Begriffe wie heller Kopf, weise (mit der Wurzelbedeutung sehen) und brilliant, d.h. visuelle Begriffe werden jetzt dem Vokabular der Intelligenzbeschreibung hinzugefügt. Auditive Adjektive sind seltener mit Intelligenz als mit Gehorsam assoziiert. Interessanterweise wird aus dem positiv für den Jagdhund gebrauchten Begriff naseweis (spürkräftig, gut witternd; seit dem 13. Jhdt.) in der Anwendung auf den Menschen ein Tadel (seit Ende des 15. Jhdts.); dies kann geschichtlich im Zusammenhang mit der zunehmenden Unterdrückung des Olfaktorischen gesehen werden. All dies bedeutet, daß der Prozeß des Denkens in Begriffen der sinnlichen Erfahrung verstanden und beschrieben wird.

Sehen? Emphasis?

 

4. Holistischer Funktionsbegriff der Sinne

Die griechische Wurzel der Ästhetik, aisqanomai, aisthanomai, hat nicht nur die mental orientiert übertragene Bedeutung von mit dem Geiste wahrnehmen, beobachten, bemerken, sondern auch die von mit den Sinnen wahrnehmen, empfinden, spüren (aisthanomai ist eine Verlängerung von aisqw, aistho, „ich atme ein“).  (Aiw, aio, bedeutet gleichfalls „ich nehme wahr“, sowohl auditiv wie visuell, aber auch allgemeiner: „ich nehme in mich hinein“ und mit der homerischen Bedeutung „ich atme“; Onians 1951.) In der indoeuropäischen Wurzel weist es auf Wahrnehmung im Allgemeinen hin. Der Begriff der Ökologie findet seine Wurzel nicht nur im Haus (griechisch oikoV, oikos), sondern darüber hinaus in der dem Haushalt übergeordneten sozialen Einheit, dem Clan oder der Sippe. Indigene Stämme verstehen Clans durch erzählerische und visuelle Symbolik, die die Menschen in die natürliche Umwelt mit einbezieht (z.B. durch die Verbindung mit einem bestimmten Tier, Platz oder einer Jahreszeit). Wir können somit den Begriff der ökologischen Ästhetik in seinem Ursprung dem assoziativen Bewußtseinsprozess indigener Völker nahebringen und ihn kritisch in der modernen Gegenwart im multisensuellen Design und als Gegengewicht zur normativen Dissoziation und einer objektivierenden Ökologie wie distanzierenden, visuell überlastigen Ästhetik benutzen.

 

Dies würde auch bedeuten, daß wir methodologisch

--- nicht dissoziierend, sondern teilnehmend, eingebettet und assoziativ;

--- nicht nur analysierend, sondern auch synthetisierend;

--- nicht nur distanziert, sondern auch engagiert;

--- nicht nur Erscheinung, sondern auch Substanz, Inneres wie Äußeres;

--- nicht nur individuell, sondern auch sozial;

--- nicht nur visuell, sondern auch multisensuell;

--- nicht nur alltägliche, sondern auch alternative Bewußtseinszustände benutzend;

--- nicht nur empirisch-analytisch, sondern auch systemtheoretisch und phänomenologisch;

--- nicht so sehr statisch, als viel mehr prozeßorientiert;

--- nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ;

--- nicht nur biologisierend, sondern auch psychologisierend;

--- nicht nur abstrahierend, sondern auch kulturspezifisch;

--- nicht nur objektivierend, sondern auch historisierend

vorgehen müssen. 

In der Analyse wie in der praktisch-technologischen Anwendung ist es wichtig, diese Pole dialektisch zu vermitteln und mit ihnen ganzheitlich im Systemzusammenhang zu arbeiten. Eine Theorie multisensuellen Designs ist ohne all diese dialektisch vermittelten Aspekte unvollständig – kritische Reflektionen als Bestandteil des Designprozesses müssen sich minimal zwischen diesen Dimensionen bewegen.

 

Kurzgefaßt bedeutet es, daß wir einen methodologischen Kontext errichten müssen, der holistisch ist und einen multidimensionalen Begriff der Sinneserfahrung prozessual entfaltet. Stringent benutzte humanwissenschaftliche Ansätze (wie Phänomenologie, Hermeneutik, etc.) und rigoros eingesetzte naturwissenschaftliche Ansätze können dabei Hand in Hand gehen, sich wechselseitig stimulieren und differenziertes qualitatives wie quantitatives Wissen produzieren. Insbesondere die marginalisierten Sinne erfordern einen solchen kontextreichen Ansatz. Multisensuelles Design kann auf diesem Wege Zugang zu latenten menschlichen Potentialen gewinnen und Erkenntnisse sowohl produktiv wie kritisch anwenden.

 

Aus humanwissenschaftlicher Sicht erscheinen einige Forschungsbereiche für innovative Beiträge besonders wichtig.  Hinsichtlich der Olfaktorik scheint die Entwicklung eines differenzierten Vokabulars von großer Notwendigkeit.  Phänomenologische Beschreibungen schwer verbalisierbarer Sinneserfahrungen scheinen dafür unabdingbar. Die wenigen Beispiele, die ich in aller Kürze beschrieben haben, deuten auf die Notwendigkeit von vertikaler wie horizontaler kulturwissenschaftlicher Forschung hin. Ein weiterer nützlicher Forschungsbereich scheint der Einfluß wiedererweckter Sinnespotentiale auf das Alltagserleben sowie das Selbstverständnis des Individuums wie die ökologische Relevanz zu sein. Ein detaillierteres Verständnis der ökologischen Entfremdung im Zusammenhang mit der Dissoziation oder Vernachlässigung von olfaktorischen, akustischen und anderen Sinnesdimensionen ist gleichfalls wünschenswert.

 

 

5. Curriculare Implikationen

Implikationen für die Entwicklung eines Curriculums, das multisensuelles Design unterstützt sind auf Grund des Gesagten offensichtlich. Wichtig ist es, dabei die Lernaktivitäten in einen Kontext zu stellen, der den gegenwärtigen Problemstellungen und der gegenwärtigen rapiden Entwicklung des Wissensstandes und der Technologie angemessen ist. Die Komplexität von Problemstellungen in einer problematischen Welt kann nicht allein durch die Beherrschung von Wissensbeständen adäquat adressiert werden, sondern sie kann allein durch die Fähigkeit des transformativen Lernens (des Lernens über das Lernen) hinreichend bearbeitet werden. Es ist extrem unwahrscheinlich, daß ein Universitätscurriculum den rapiden wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen Schritt halten kann. Von daher scheint es unabdingbar, daß Studenten nicht nur fachliche Inhalte lernen, sondern ihre Kapazität für beständigen Paradigmawechsel ausbilden (Lernen 2. Ordnung, Metalernen; Bateson, 1981), so daß sie den Anforderungen neuer Technologien gerecht werden können. Transformatives Lernen bedeutet die Transformation von Bedeutungsschemata (spezifischen Annahmen über Selbst und Realität) und Bedeutungsperspektiven (übergreifenden Weltanschauungen) durch die Reflektion auf implizite Prämissen. Auf diese Weise können Bedeutungsperspektiven entwickelt werden, die inklusiver, differenzierter, permeabler und integrierter sind (cf. Elias 1997, Mezirow 1991). Multisensuelles Design bedeutet von vornherein den Umgang mit komplexen Problemstellungen (bei denen viele Implikationen oft schwer vorhersagbar sind). Ein wacher und kritischer Umgang mit den Stoffinhalten setzt die Fähigkeit zu fortlaufendem transformativem Lernen voraus bei gleichzeitig ansteigender Komplexität der Realität. Ökologische Ästhetik ist ohne dem nicht denkbar; die systemtheoretischen Reflektionen von Bateson in seiner Ökologie des Geistes (1981) haben dies schon vor langer Zeit deutlich herausgestellt (seine darin enthaltenen Artikel Die Wurzeln der ökologischen Krisen und Ökologie und Flexibilität in urbaner Zivilisation, z.B., sind auch heute noch hochaktuell). Transformatives Lernen ist meines Erachtens der unabdingbare Rahmen eines Curriculums für multisensuelles Design. D.h. während die Definition von Kursinhalten unabdingbar ist, ist es mindestens ebenso wichtig, Definitionen für bestimmte Qualitäten von Lernprozessen zu entwickeln sowie Lernziele flexibel zu definieren.

 

Insgesamt kann ich mir ein projektorientiertes Lernen in Kombination mit neuester Computertechnologie sowie Intensivseminaren vorstellen. Es scheint mir sinnvoll, Projekte nicht im Sinne einer Spezialisierung anzugehen, sondern sie von vornherein multi-sensuell zu definieren. Der Erwerb von technischem Spezialwissen wird wahrscheinlich am ökonomischsten in Zusammenarbeit mit Unternehmen stattfinden, bei denen die Studenten Praktika machen sowie durch Computerkurse (CD-ROM, auf Web Basis). Es scheint wichtig, daß die Studenten die Möglichkeit haben, als Lernende zusammen mit den Dozenten an komplexen Projekten zu arbeiten. Auch scheint es sinnvoll, bestimmte Anforderungen für die Zulassung zum Spezialstudium zu stellen (z.B. vorbereitende Praktika).  Die Zusammenarbeit mit Experten aus der Industrie scheint unabdingbar. 

 

In diesem groben Rahmen des transformativen Lernens scheint es wichtig, daß das Curriculum in jeder Hinsicht integrativ und nicht dissoziativ ist (d.h. projektorientiertes Studieren, Selbsterfahrung, Entwicklung von Empfindungs- und Wahrnehmungstiefe in vernachlässigten Sinnesbereichen, Erweiterung der Dimensionen der Selbsterfahrung, Wiedererweckung latenter Potentiale, Simulationen anderer Sinnesuniversen).  Multimethodologisches Teamlernen sowie Forschen können sicherlich als conditio sine qua non betrachtet werden. Die Praxis ganzheitlichen, systemtheoretischen und multidimensionalen Denkens ist dabei zentral. Dazu gehört auch die Fähigkeit, multisensuelle Problemlösungen kritisch zu analysieren und in einer Philosophie der Werte zu verankern, die historisch sowie interkulturell weitsichtig ist. Viele der Inhaltsbereiche, die ich in diesem Artikel beschrieben habe, können per Computer in Kombination mit Intensivseminaren effizient unterrichtet werden. Die kritische Auseinandersetzung mit Sinneserfahrungen in der Natur scheint dazu als Gegengewicht notwendig. 

 

6. Abschliessende Bemerkungen

Bateson schrieb 1967: „Ich werde so argumentieren, daß das Problem der Grazie (grace) grundsätzlich ein Problem der Integration ist, und was integriert werden soll, sind die verschiedenen Teile des Geistes -- besonders jene vielfältigen Ebenen, deren eines Extrem „Bewußtsein“, das andere „Unbewußtes“ genannt wird. Zur Erreichung von Grazie müssen die Gründe des Herzens mit den Gründen des Verstandes verbunden werden“ (1981, p. 183). Das wäre dann erfolgreiche ökologische Ästhetik und multisensuelles Design -- die Spannung zwischen Natur und Kultur/Zivilisation kann sich, zumindestens temporär, in der Synthese eines synästhetischen Moments erholen, der Mensch kann wahrnehmend einatmen und die Komplexität von Selbst und Welt verstehend geniessen. Eine solche Integration von Gründen des Herzens und des Verstandes finden wir in der Beispielen der Diné (Navajo) chantways, des Hopi zeremoniellen Kalendars mit seinen Katsinazeremonien oder der zeremoniellen Pflege der songlines bei den australischen Warlpiri. Grace ist hier sowohl ästhetische Grazie, die Schönheit gelungener multisensueller Kreation, als auch die Gnade (grace) der kreativen Inspiration und Evokation. Das nachfolgende Kapitel beschreibt die zentralen Integrationsprozesse im menschlichen Bewußtsein, die solch innerliche wie äußerliche multisensuelle Schöpfungsfähigkeit fördert: die Trance.

 

7. Literaturshinweise

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Ackerman, D. (1990). A natural history of the senses. New York: Vintage.

Bateson, G. (1981). Ökologie des Geistes. Frankfurt: Suhrkamp.

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[i]  Meine allgemeineren Bemerkungen sind von den folgenden Veröffentlichungen beeinflußt: Abram (1996), Ackerman (1990), Classen (1993), LeGuérer (1992).

[ii] Die folgenden Bemerkungen basieren auf Classen (1993), de Vries (1977), Lexer (1992), Mitzka (1960), Watkins (1969).

[iii] Die folgenden Bemerkungen basieren auf Classen (1993), de Vries (1977), Lexer (1992), Mitzka (1960), Watkins (1969).